Fahrgäste haben unterschiedliche Beförderungswünsche. Mit einer flexiblen und aufeinander abgestimmten Angebotspalette im ÖPNV lassen sich diese optimal erfüllen.
Die vielfältigen Beförderungswünsche der Fahrgäste lassen sich am besten durch einander ergänzende und aufeinander abgestimmte Beförderungsangebote bedienen. Während früher der Linienbus regionale und lokale Verkehrsaufgaben erfüllte, bietet der Regional- und Stadtverkehr heute ganz unterschiedliche Produkte an, etwa den Regionalschnellbus oder den Stadtbus. Flexible Angebote wie das Anruf-Sammeltaxi (AST) oder der On-Demand-Verkehr ergänzen die Angebotspalette des ÖPNV. Die Produktpalette als „Baukasten“ macht es möglich, die jeweils geeigneten Produkte planerisch gezielt einzusetzen und miteinander zu einem flächendeckenden ÖPNV-Angebot zu kombinieren.
Ausgangslage
Durch die Differenzierung des ÖPNV-Angebots in wiedererkennbare, mit bestimmten Eigenschaften versehene „Produkte“ werden einerseits planerische sowie andererseits Marketing-Ziele verfolgt:
- Produktpositionierung: Erkunden und Strukturieren der anfallenden Verkehrsaufgaben und der entsprechenden Zielgruppe ⇒ gesteigerte Marktausschöpfung
- Produktdifferenzierung: Entwickeln angepasster Produkte, die sich systematisch zu einer Produktpalette zusammenfügen ⇒ „Stärkung der Stärken“ der ÖPNV-Verkehrsmittel
- Produktprofilierung: Ausbilden charakteristischer Produkteigenschaften und Produktqualitäten ⇒ Verbesserung der Orientierung für die Kund*innen im Gesamtsystem.
Die Produktdifferenzierung hat bei den Eisenbahnen eine lange Tradition, schon allein aus innerbetrieblichen Gründen, um beispielsweise Prioritäten in der Betriebsführung (z. B. von Nah- und Fernverkehrszügen) festlegen zu können.
Der eigenwirtschaftliche Fernverkehr der Deutschen Bahn AG besteht im Wesentlichen aus den Produkten InterCity-Express (ICE) und InterCity/EuroCity (IC/EC). Der ICE als Hochgeschwindigkeitszug verbindet die Ballungsräume Deutschlands in einem Kernnetz aus Schnellfahr- und Ausbaustrecken miteinander. Schnellverbindungen ins Ausland stellt der ICE gemeinsam mit dem Angebot ausländischer Betreiber (z.B. mit Eurostar, TGV) her. IC/EC-Züge vervollständigen das Kernnetz zwischen den deutschen Ballungsräumen (sofern nicht durch ICE aufgespannt), bedienen aufkommensstarke regionale Ergänzungsstrecken bzw. Strecken ins benachbarte Ausland.
Auf einzelnen Strecken führen in Deutschland nichtbundeseigene Eisenbahnen (NE-Bahnen) eigenwirtschaftlichen Fernverkehr durch (z. B. Flixtrain auf verschiedenen Strecken wie Hamburg - Köln, Dresden - Berlin - Köln - Aachen, Berlin - Frankfurt - Basel). Diese Verkehre sind vielfach dem Segment interregionaler Fernverkehr zuzuordnen, da vielfach eine die Regionen erschließende Haltepolitik zur besseren Marktausschöpfung gewählt wird.
Seit der Liberalisierung des Fernbuslinienverkehrs zum 1. Januar 2013 ist die Zahl der Fernbuslinien in Deutschland deutlich gestiegen. Fernbusse verkehren zwischenzeitlich mit recht hoher Frequenz zwischen den Ballungsräumen und bedienen aufkommensstarke regionale Ergänzungsstrecken. Die Fahrzeiten liegen im Vergleich zum Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) i.d.R. deutlich höher, die Fahrpreise jedoch meist niedriger.
Mit der Einführung des Integralen Taktfahrplans in NRW wurde die Produktgestaltung im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) erheblich gestärkt. Im regionalen Nahverkehr auf der Schiene haben sich RegionalExpress (RE), RegionalBahn (RB) und S-Bahn (S) durchgesetzt. Während RE-Züge die wichtigsten Städte entlang der Hauptverkehrsachsen schnell miteinander verbinden, vernetzen RegionalBahnen die Haupt- und Nebenstrecken des SPNV mit Halt an allen Bahnhöfen. Die S-Bahn ergänzt und ersetzt die RegionalBahn in Gebieten mit sehr hohem Verkehrsaufkommen und verbindet Städte und Gemeinden am Rand der Ballungsgebiete mit deren Kern.
Auf nachfragestarken Relationen ohne direkte Schienenverbindung verbindet der Schnellbus Städte und Gemeinden entlang der Hauptverkehrsachsen. Demgegenüber spannt der Regionalbus das Grundangebot einer Region auf. Er verbindet Städte und Gemeinden auch außerhalb der Hauptverkehrsachsen und übernimmt die Ortserschließung, wenn eigenständige Ortsbus-Systeme fehlen.
Im lokalen Nahverkehr bewältigen U-Bahnen, Stadt-/Straßenbahnen oder Stadtschnellbusse und Metrobusse entlang dicht besiedelter Achsen große Verkehrsmengen, während Stadt-/ Ortsbusse, Citybusse oder Quartiersbusse die Flächenerschließung übernehmen. Stadt-/ Ortsbusse vernetzen Stadtgebiete und Gemeinden und binden diese an den Regionalverkehr auf Straße und Schiene an. City- und Quartiersbusse machen kleinräumige Kernbereiche, Stadtteile oder Wohnquartiere größerer Städte zugänglich.
In Räumen und Zeiten schwacher Nachfrage können flexible Betriebsformen wie Anruf- Linienfahrt (ALF), Anruf-Sammeltaxi (AST), On-Demand-Verkehre oder der Bürgerbus im Lokalverkehr den „regulären“ ÖPNV ergänzen bzw. ersetzen.
Die ÖPNV-Produktpalette wird häufig durch Sonderformen für spezielle Nutzergruppen gezielt ergänzt. Beispiele dafür sind Nachtbusse, die an Wochenenden den nächtlichen Freizeitverkehr bedienen (Diskotheken-/Kneipenbesuche, Kulturveranstaltungen), oder Flughafenexpressbusse, die Flughäfen an die Innenstadt anbinden.
Weitere Tabellen und Übersichten:
Akteure
Im Auftrag des Bundesministers für Verkehr ist bereits Anfang der 90er Jahre am Beispiel des Verkehrsverbunds Rhein-Sieg (VRS) ein Handbuch zur Produktgestaltung erarbeitet worden. Dieses systematische Grundlagenwerk gibt auch Hinweise zum Produktcontrolling.
Bei der Entwicklung der Produktgestaltung im ÖPNV haben mehrere Regionen aus NRW bereits in den 90er Jahren „Pionierarbeit“ geleistet. Zu nennen sind hier:
Mit dem ÖPNV-Modellversuch Kreis Lippe, der vom Bundesministerium für Verkehr, dem Verkehrsministerium NRW und dem Kreis Lippe getragen wurde, konnte schon zu Beginn der 90er Jahre ein Konzept zur differenzierten Bedienung erfolgreich umgesetzt werden. Dieses Modell umfasst vier hierarchisch gegliederte Systemkomponenten (Schienenstrecken, Regionalbusse, Ortsbusse und flexible Bedienungsformen).
Die Westfälische Verkehrsgesellschaft mbH (WVG) hat ebenfalls zu Beginn der 90er Jahre ihr Angebot im Münsterland und im Ruhr-Lippe-Raum konsequent an einer einheitlichen Produktlinie ausgerichtet.
Probleme und Aufgaben
Bislang sind die Produktpaletten von Nah- und Fernverkehr weitgehend unabhängig voneinander entwickelt und umgesetzt worden. Das betrifft insbesondere den regionalen Fernverkehrsmarkt, aus dem sich die DB durch Einstellung der InterRegio-Züge weitgehend zurückgezogen hat. Um die Verbindungsstrukturen in Deutschland zwischen Fern- und Nahverkehr zu verbessern, hat sich unter dem Titel „Deutschland-Takt“ eine Initiative gebildet, in der sich Vertreter von SPNV-Aufgabenträgern, Fahrgastverbänden und Verkehrsunternehmen für ein deutschlandweites Taktfahrplankonzept von Nah- und Fernverkehr einsetzen.
Vor diesem Hintergrund und zur Stärkung der Schnellverkehrsstrukturen in NRW ist unter dem Namen „Rhein-Ruhr-Express" (RRX) ein landesweites Schnellverkehrsnetz entwickelt worden. Dafür wird zurzeit und in den kommenden Jahren die Infrastruktur umgebaut. Der RRX versteht sich als „Premiumprodukt“ im SPNV und soll weiterhin die entstandene Produktlücke zwischen den Fernverkehrsprodukten und den Nahverkehrsprodukten auf der Schiene schließen.
Das ÖPNV-Gesetz des Landes NRW ermöglicht den SPNV-Aufgabenträgern auch regionale Schnellbuslinien zu fördern. Hierzu haben die Aufgabenträger die förderfähigen Achsen innerhalb ihrer Verbandsgebiete festlegt, die Gemeinden ohne Schienenanschluss an das bestehende SPNV-Liniennetz anbinden. Das Schnellbus-Angebot soll den lokalen Busverkehr ergänzen und keineswegs in Konkurrenz zum SPNV treten. Die Förderung stellt einen wesentlichen Beitrag für die Finanzierung von Fahrplanverdichtungen und den Einsatz hochwertiger Fahrzeuge auf bestehenden Schnellbusachsen dar. Sie ist Bestandteil der ÖPNV-Offensive NRW.
In vielen Nahverkehrsräumen ist die Produktdifferenzierung inzwischen weit fortgeschritten und flexible Betriebsformen (z. B. Anruf-Sammeltaxen oder On-Demand-Verkehre) ergänzen die Produktpalette. Allerdings folgt die Produktgestaltung nur in wenigen Fällen einer durchgängigen einheitlichen und zwischen allen Verkehrsunternehmen des Raumes abgestimmten Produktlinie. Oft tragen gleiche Produkte in unterschiedlichen Teilräumen verschiedene Produktnamen. Im Extremfall bestehen nebeneinander gleiche Produkte mit unterschiedlichen Produktnamen (je nach betriebsführendem Verkehrsunternehmen).
Von einigen Verkehrsunternehmen wird auch die Kostenwirksamkeit der Produktdifferenzierung beklagt. Produktmerkmale wie ein stringenter Taktfahrplan, modern gestaltete Fahrzeuge, besonderer Komfort, besonderes Design mit Verzicht auf Fremdwerbung erschwerten die Fahrzeugeinsatzplanung und führten zu höheren Kosten, die durch höhere Einnahmen nicht gedeckt würden. Im Kontrast hierzu stehen jedoch Ansätze aus dem stark privatwirtschaftlich orientierten britischen ÖPNV, wo Busunternehmen durch entsprechende Produktmerkmale (z. B. Ledersitze oder WLAN im Regionalbus, Linienmarketing) Alleinstellungsmerkmale ihres Angebots aufgebaut haben.
Die Produktentwicklung muss von den Aufgabenträgern, Verkehrsverbünden und Verkehrsunternehmen möglichst konsequent und gemeinsam weiter vorangetrieben werden. Im Interesse einer leichteren Identifikation durch die Kund*innen und im Interesse des Wiedererkennungswertes sollten dabei die Produktbezeichnungen harmonisiert werden. Ein „Wildwuchs“ von Produkten muss verhindert werden, da er die Wiedererkennbarkeit verschlechtert und Kund*innen z. B. hinsichtlich der Anerkennung von Tarifprodukten (wo ist mein Ticket gültig?) nachhaltig verunsichert. Regionale bzw. lokale Bezüge sind z. B. durch entsprechende Namenszusätze (z. B. „Ruhr-Sieg-Express“) einfach und kostengünstig erreichbar.