Ein älterer Mann mit weißem Haar sitzt in einem Bus hinter einem jungen Mädchen, beide lächeln sich freudig an, halten sich an den Händen, der Mann hält den Kopf des Mädchens.
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Demographische Entwicklung und Wirkungen auf den ÖPNV

Ver­öf­fent­licht am

Veränderungen in der zukünftigen Altersstruktur der Bevölkerung und dementsprechend in den Nachfragestrukturen erfordern räumlich differenzierte Anpassungsmaßnahmen im ÖPNV.

Unsere Gesellschaft befindet sich in stetigem Wandel. Die Zahl der Schüler*innen geht auch zukünftig weiter zurück, während die Zahl der Senior*innen in unserer Gesellschaft weiter ansteigt. Diese Entwicklung hat auch Auswirkungen auf die Nachfrage im Öffentlichen Personennahverkehr, der sich Verkehrsunternehmen, Verbünde und auch die Politik stellen müssen.

Ausgangslage


Nach der aktuellen Bevölkerungsvorausberechnung für Nordrhein-Westfalen wird sich die Gesamteinwohnerzahl bis 2050, ausgehend von den Bevölkerungszahlen am 01.01.2021, nur unwesentlich verändern (-310.000 Personen, entsprechend -1,7 %). Jedoch werden erhebliche Verschiebungen erwartet und zwar sowohl regional als auch zwischen den Altersklassen. Das Durchschnittsalter der nordrhein-westfälischen Bevölkerung wird von 44,3 auf 46,2 Jahre im Jahr 2050 ansteigen. Wesentliche Ergebnisse der Bevölkerungsvorausberechnung sind (Quelle: IT.NRW):

  • Regional wird entgegen dem Landestrend bis zum Jahr 2050 für insgesamt 17 der 53 Kreise und kreisfreien Städte in NRW mit einem Bevölkerungswachstum gerechnet. Die größten Zuwächse an Einwohner*innen sind in den Großstädten entlang der Rheinschiene zu erwarten: Bonn (+8,8 %), Köln (+5,0 %) und Düsseldorf (+4,2 %). Auch für die kreisfreien Städte Münster (+3,1 %), Wuppertal (+2,4 %) und Aachen (+2,3 %) zeichnet sich ein Anstieg der Bevölkerungszahlen ab, genauso wie für die Kreise Euskirchen (+4,0 %), Heinsberg (+2,7 %) und Kleve (+2,0 %).

    Demgegenüber ist in 36 kreisfreien Städten und Kreisen bis 2050 mit einer rückläufigen Bevölkerungszahl zu rechnen. Die höchsten Rückgänge werden im Kreis Höxter (−14,3 %), im Kreis Olpe (−13,3 %), im Märkischen Kreis (−13,0 %), im Hochsauerlandkreis (−11,4 %) und im Kreis Siegen-Wittgenstein (−8,5 %) erwartet.

    Auch für die Ruhrgebietsstädte sowie die anliegenden Kreise ist ein Bevölkerungsrückgang absehbar, der aber unterschiedlich stark ausfallen wird: Während die kreisfreien Städte Herne, Essen und Dortmund eher geringere Verluste an Einwohner*innen zu erwarten haben (≤ 1%), ist in der kreisfreien Stadt Oberhausen, im Ennepe-Ruhr-Kreis sowie in den Kreisen Unna, Recklinghausen und Wesel mit Verlusten von mehr als fünf Prozent zu rechnen.

  • Zur veränderten räumlichen Bevölkerungsverteilung kommt eine veränderte Altersstruktur hinzu. So wird der Anteil der über 65-​Jährigen in Nordrhein-​Westfalen bis zum Jahr 2050 von 21% auf 27% zunehmen, der Anteil der unter 20-​Jährigen dagegen stagnieren. Da aber auch diese Entwicklungen regional unterschiedlich ablaufen, verschärft sie die oben dargestellte Situation. Es ist damit zu rechnen, dass das Durchschnittsalter der Bevölkerung bis zum Jahr 2050 in den Kreisen um 2,6 Jahre steigt, in den kreisfreien Städten jedoch lediglich um ein Jahr. Dabei wiesen die Kreise bereits 2021 mit 44,9 Jahren ein höheres Durchschnittsalter auf als die kreisfreien Städte mit 43,4 Jahren.

Selbst dauerhaft höhere Zuwanderungsraten nach NRW werden die geschilderten Tendenzen aller Voraussicht nach nicht grundsätzlich verändern. Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass prosperierende und wachsende Regionen auch für Zuwandernde tendenziell attraktiver sind.

Die Auswirkungen des demografischen Wandels auf den ÖPNV werden in der aktuellen Diskussion oft auf mehr Barrierefreiheit für eine wachsende Zahl älterer Fahrgäste reduziert, was aber der Vielschichtigkeit des Themas nicht gerecht wird. Tatsächlich gibt es eine Vielzahl von Auswirkungen, die sich regional höchst unterschiedlich zeigen und von veränderten Mobilitätsgewohnheiten der Bevölkerung überlagert werden.

Wegbrechen bislang wichtiger Kundengruppen

Aufgrund der in vielen Teilen von Nordrhein-Westfalen rückläufigen Schülerzahlen wird auch das entsprechende Beförderungsaufkommen im Schülerverkehr zurückgehen. Dies trifft ganz besonders den ÖPNV in ländlichen Räumen, da dort

  • der Schülerverkehr eine wichtige Nachfragesäule und damit auch eine wichtige Finanzierungsgrundlage des Linienverkehrs darstellt,

  • die Rückgänge im Vergleich zu den Ballungsräumen höher ausfallen,

  • die absoluten Rückgänge meist nicht so groß sind, dass Betriebsleistungen eingespart werden können, d.h. die Auslastung des ÖPNV und damit der Kostendeckungsgrad sinken tendenziell.

Zwar steigt in den kommenden Jahren potenziell die Anzahl älterer Fahrgäste. Es ist aber nicht zu erwarten, dass dieses Potenzial in gleichem Umfang wie früher den ÖPNV auch tatsächlich nutzen wird: Die heute 65-​Jährigen stellen eine Generation dar, deren Leben stark auf den Pkw ausgerichtet war und ist und deren Erwerbsbiografie vollständig in das Zeitalter der Vollmotorisierung fällt. Bei den heute 65-​Jährigen ist beim Führerscheinbesitz kein signifikanter Unterschied mehr zwischen Männern und Frauen festzustellen, ebenso keine überdurchschnittlich hohe ÖPNV-​Nutzung. Dies war vor rund einem Jahrzehnt noch anders. Daher wird das unter dem Stichwort „demografischer Wandel“ erwartete neue Fahrgastpotenzial (mehr ältere Fahrgäste) vielerorts ausbleiben.

Veränderungen der Schulstruktur

Resultierend aus den rückläufigen Schülerzahlen ist die Konzentration von Schulstandorten ein weiterer wichtiger Aspekt. Dazu kommen weitere Trends, die die Schullandschaft und die Schulwege vielerorts gravierend verändern:

  • Abkehr vom traditionellen dreigliedrigen Schulsystem (zugunsten von Gesamt- und Sekundarschulen),

  • zunehmend differenzierte Schulendzeiten (steigende Bedeutung von Nachmittagsunterricht und Ganztagsschulen),

  • freie Schulwahl,

  • Inklusion.

Aus Sicht des ÖPNV sind diese Entwicklungen zweischneidig: sie können zwar zu einer besseren Bündelung von Verkehren führen, verlängern aber auch die Wege – ohne dass zusätzliche Einnahmepotenziale dem entgegenstehen. Freie Schulwahl und dadurch zunehmende Schülerverkehrsströme „kreuz und quer“ verschärfen diese Situation. Nachmittagsunterricht und Ganztagsschulen sind aus Sicht des ÖPNV besonders dort nützlich, wo bereits ein gutes ÖPNV-​Angebot besteht (Abbau der „13-​Uhr-Spitze“ und damit verbunden ggf. weniger erforderliche Einsatzwagen). Im ländlichen Raum erzeugen Nachmittagsunterricht und Ganztagsschulen dagegen einen nicht unerheblichen Mehraufwand (zusätzliche Fahrten), um Schüler*innen über den gesamten Nachmittag Rückreisemöglichkeiten zu bieten.

Änderung bei den Anteilen der einzelnen Reisezwecke

Gerade im ländlichen Raum ist der ÖPNV stark auf den Schülerverkehr und auf den Berufsverkehr ausgerichtet. Die Bedürfnisse für Freizeit-​ und Erledigungsverkehr kann der ÖPNV dagegen oft nicht attraktiv befriedigen. Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, dass der ÖPNV im ländlichen Raum in eine verhängnisvolle Situation gerät. Die rückläufigen Wegezwecke (Schüler- und Berufsverkehr) betreffen überproportional heutige ÖPNV-​Nutzende und werden sich dadurch in Fahrgastrückgängen niederschlagen. Von den wachsenden Wegezwecken (Freizeit- und Erledigungsverkehr) kann der ÖPNV dagegen nicht gleichermaßen profitieren. In der Folge sind bei leicht sinkender Bevölkerung im ländlichen Raum weniger Fahrten mit dem ÖPNV und mehr Fahrten im MIV zu erwarten.

Andererseits eröffnen veränderte Reisezwecke im ÖPNV durchaus eine Chance: Freizeit-​ und Erledigung finden i.A. nicht in den heutigen Hauptverkehrszeiten statt. Bessere Angebote können daher oft zu Grenzkosten produziert werden (keine zusätzlichen Fahrzeuge notwendig). Wird auf diese Entwicklung im ÖPNV dagegen „klassisch“ reagiert (d.h. Einsparung unwirtschaftlicher Fahrten oder Umstellung derselben auf flexible Bedienungsformen), wird diese Entwicklung zwangsläufig zu einer ÖPNV-​Abwärtsspirale führen. Gerade in ländlichen Räumen von Nordrhein-​Westfalen ist zu beobachten, dass diese Abwärtsspirale längst eingesetzt hat.

Ansprüche älterer Fahrgäste

Ältere Fahrgäste stellen besondere Ansprüche an das Verkehrsangebot. Da sie inzwischen vielfach nicht mehr auf den ÖPNV angewiesen sind, ist die Erfüllung dieser Ansprüche bedeutend für eine nachhaltige Kundenbindung. Dazu kommt ein steigender Anteil mobilitätseingeschränkter Fahrgäste. Diese wiederum benötigen einen barrierefreien und einfach nutzbaren ÖPNV. Das Ziel der Inklusion verstärkt diesen Trend.

Zu nennen sind in diesem Zusammenhang folgende Anforderungen, deren Erfüllung zukünftig noch wichtiger wird:

  • barrierefreie Haltestellen

  • kurze Fußwege zur Haltestelle

  • Sitzplatzverfügbarkeit

  • Mitnahmemöglichkeit von Rollatoren

  • Umsteigefreiheit bzw. ausreichende Übergangszeiten

  • günstiges und begreifbares Tarifsystem

  • verständliche und barrierefreie Fahrgastinformation

  • sauberer Zustand der Fahrzeuge und Haltestellen

  • subjektives Sicherheitsempfinden

Steigende Bedeutung des ÖPNV in den Ballungsräumen

Völlig gegenläufig zur Situation in den ländlichen Räumen stellt sich die Lage in vielen Ballungsräumen dar. Hier gewinnt man stellenweise den Eindruck, dass sich der ÖPNV „vor Fahrgästen kaum noch retten“ kann. Bestätigt wird dieser Eindruck durch die Jahresstatistiken des VDV. Danach verzeichnet der ÖPNV in Deutschland seit Jahren durchweg Fahrgaststeigerungen, abgesehen von massiven Rückgängen in den Corona-Jahren. Die Fahrgaststeigerungen entfallen aber wesentlich auf den städtischen ÖPNV und auf den Schienenpersonennahverkehr, wohingegen der ÖPNV in Klein- und Mittelstädten sowie insbesondere der regionale Busverkehr rückläufig sind.

Der starke Zuwachs im städtischen ÖPNV ist zumindest teilweise demografisch bedingt, steht jedoch in Wechselwirkung zu sozialen und verkehrsstrukturellen Faktoren:

  • wachsende Bevölkerungszahlen,

  • mehr Arbeitsplätze, weniger Arbeitslose,

  • wachsende Studierendenzahlen,

  • veränderte Verkehrsgewohnheiten der jüngeren urbanen Bevölkerung (prozentuale Rückgänge bei Führerscheinbesitz, Pkw-Nutzung und Pkw-Verfügbarkeit, Offenheit für Multimodalität),

  • attraktive Tarifangebote, die einer „ÖPNV-Flatrate“ nahekommen (Deutschlandticket, Jobtickets, Schülertickets, Semestertickets, Seniorentickets),

  • gestiegene Kosten für individuelle Mobilität,

  • überlastete Straßennetze, die die Pkw-Nutzung unattraktiv machen,

  • aktives politisches Handeln zur Förderung von Verkehrsverlagerungen,

  • gestiegenes Bewusstsein zum Klimaschutz.

Diese Trends können sich in steigenden Fahrgastzahlen niederschlagen, da sie in den Ballungsräumen auf ein attraktives ÖPNV-​Angebot stoßen, welches in der Vergangenheit vielerorts weiter verbessert worden ist. Dies gilt ganz besonders für den kommunalen Schienenverkehr und den SPNV im Zulauf auf die Oberzentren.

Im Gegensatz zur Situation im ländlichen Raum bedingen diese Trends in den Ballungsräumen letztendlich weitere Ausbau-​ und Verbesserungsmaßnahmen – sowohl zum Abbau zunehmender Kapazitätsengpässe als auch zur Berücksichtigung eines wachsenden Stellenwerts des ÖPNV in der Bevölkerung und Politik. Dies wiederum führt u.a. auch dazu, dass sich die Investitionen in die kommunale ÖPNV-​Infrastruktur auf die Ballungsräume konzentriert. Eine immer weiter aufgehende Schere zwischen städtischem und ländlichem ÖPNV kann die Folge sein.

Probleme und Aufgaben


Die beschriebenen Auswirkungen des demografischen Wandels führen tendenziell zu zwei gegenläufigen Entwicklungen:

  • In bevölkerungsstabilen oder wachsenden Räumen mit gutem ÖPNV-Angebot wird die Bedeutung des ÖPNV tendenziell weiter zunehmen.

  • In ländlichen Räumen, die ihren ÖPNV bislang vor allem auf Schüler- und Berufsverkehre ausgerichtet haben, wird der ÖPNV erheblich an Bedeutung verlieren, sofern nicht gegengesteuert wird.

Die erste Tendenz ist aus ÖPNV-​Sicht erfreulich. Um eine nachhaltige Entwicklung zu sichern, ist es aber unabdingbar, dass zukünftig neue Wege zur Finanzierung des ÖPNV-​Angebotes und der ÖPNV-​Infrastruktur gefunden werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass Fahrgastpotenziale schon aufgrund mangelnder Kapazitäten nicht angesprochen und ausgeschöpft werden können. Aber wie kann der zweiten Tendenz begegnet werden, um den ÖPNV zu sichern bzw. zu stärken? Entscheidend ist, den ÖPNV nicht auf einzelne Kundengruppen auszurichten, sondern ihn für den „Jedermannverkehr“ systematisch weiterzuentwickeln. Für die Nahverkehrsplanung bedeutet dies::

  • Herstellung eines systematisierten ÖPNV-Systems mit regelmäßigen Angeboten, welches auch für „normale“ Fahrgäste verständlich ist.

  • Nutzung von Optimierungspotenzialen zur Stärkung und Verbesserung der ÖPNV-Hauptachsen, auf denen mit attraktiven Angeboten neue Fahrgäste gewonnen werden können.

  • Regelmäßige und vertaktete Angebote in die Ober- und Mittelzentren auch abseits des Berufsverkehrs, um einen attraktiven ÖPNV für den Freizeit- und Erledigungsverkehr zu schaffen.

  • Konsequente Differenzierung des ÖPNV-Angebotes in regionale und lokale Verkehre, letztere optimiert auf kurze Zugangswege.

  • Herstellung bezahlbarer ÖPNV-Angebote in Räumen und Zeiten schwacher Nachfrage unter Nutzung flexibler Betriebsformen (z. B. Anruf-Sammeltaxi).

  • Konzeption eines ÖPNV-Systems über den klassischen Busverkehr hinaus, welches zusätzliche Angebotsformen zielgerichtet dort einsetzt, wo sie ihre wirtschaftlichen und verkehrsplanerischen Stärken entfalten können (Stichwort "Mobilitätsverbund"), bei gleichzeitigem Abbau sporadischer Busverkehre mit wenig Kundennutzen.

Dazu kommen „weiche“ Faktoren:

  • Abbau von Nutzungshürden (dynamische Fahrgastinformation, neue Informationswege über Smartphone, verständliche Tarifangebote etc.),

  • Marketing für neue Zielgruppen (insbesondere „Pkw-sozialisierte“ Senior*innen).

Qualitätsstandards für Fahrzeuge und Infrastruktur inklusive Herstellung der gesetzlich geforderten Barrierefreiheit müssen nicht nur aufgestellt werden, sondern auch umgesetzt werden und in der Praxis ankommen. Letztendlich geht es darum, gerade im regionalen Bereich weg zu kommen von einem „klassischen ÖPNV“ mit unübersichtlichen und alternierenden Linienwegen, die nur von Eingeweihten genutzt werden. Ziel muss es sein, die Fahrgastpotenziale durch passgenaue und leicht verständliche Angebote und Tarife besser zu erschließen und langfristig zu sichern, um so einem „Sterben auf Raten“ entgegenzuwirken.